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Manchmal muss man sich trennen, um zusammenzukommen

  • Erstellt von Lisa Goller
  • Familie und Erziehung, Geschwister-Gummi-Stiftung
  • Fachartikel

Ein Plädoyer für Heimerziehung

Im Jahr 2018 überstieg die Anzahl der Hilfen zur Erziehung in Deutschland erstmals die Marke von einer Million. Damit benötigten Familien so viel erzieherische Unterstützung wie noch nie. Während ambulante Leistungen in Form von Erziehungsbeistandschaft und Sozialpädagogischer Familienhilfe im Vergleich zum Vorjahr um insgesamt 14 Prozent zunahmen und mittlerweile ein Fünftel aller erbrachten Hilfen zur Erziehung ausmachen, verzeichnet die Heimerziehung einen Rückgang von etwa drei Prozent (vgl. Statistisches Bundesamt (Destatis) 2019). Die Zahlen lassen damit eine zunehmende »Ambulantisierung« von Hilfemaßnahmen beobachten. Flexible Angebote vor Ort werden immer häufiger eingesetzt, zugleich erleidet die Heimerziehung einen Imageverlust, gilt sie doch als tief einschneidende, langwierige und vor allem kostenintensive Hilfe zur Erziehung. Diese Entwicklung bedarf eines dringenden Perspektivwechsels – vor allem im Hinblick auf die Zukunftschancen von Kindern und ihren Familien.

Gleichrangigkeit von Hilfen zur Erziehung?

Benötigen Sorgeberechtigte Unterstützung bei der Erziehung, wenn sie den Entwicklungsbedürfnissen ihrer Kinder nicht ausreichend nachkommen können, berät das örtlich ansässige Jugendamt im Hinblick auf entsprechende Hilfsangebote. Nach § 27 Abs. 2 im SGB VIII, der die verfügbaren Hilfen zur Erziehung im deutschen Gesetzestext einleitet, richten sich »Art und Umfang der Hilfe [...] nach dem erzieherischen Bedarf im Einzelfall«. Dem Wortlaut zufolge besteht damit eine Gleichrangigkeit unter den dargebotenen ambulanten, teilstationären und stationären Hilfeformen. Auf diese Weise soll es ermöglicht werden, im Zusammenwirken zwischen Familien und Mitarbeitenden der Jugendämter diejenige Maßnahme auszuwählen, die sich am effektivsten zur Verbesserung von Lebensbedingungen junger Menschen eignet. Was in der Theorie plausibel und folgerichtig klingt, scheint in der Praxis der Kinder- und Jugendhilfe in Anbetracht der aktuellen Statistik eine andere Anwendung zu finden.

»Ambulant vor stationär« – ein fragwürdiges Paradigma

Die Zahlen des Statistischen Bundesamtes aus dem Jahr 2018 machen deutlich: Ambulante Hilfen zur Erziehung haben im Vergleich zu den Vorjahren der Entwicklung entsprechend erneut signifikant zugenommen. Vor allem die Einzelbetreuung (§ 30 SGB VIII Erziehungsbeistand/Betreuungshelfer) und die familienorientierte Hilfe (§ 31 SGB VIII Sozialpädagogische Familienhilfe) – also flexible Angebote vor Ort – verzeichnen einen deutlichen Anstieg an gewährten Unterstützungsleistungen um 14 Prozent. Dem gegenüber steht ein Rückgang an stationären Hilfen in Form von Heimerziehung oder sonstigen betreuten Wohnformen von über drei Prozent (vgl. Statistisches Bundesamt (Destatis) 2019). Der Grundsatz »ambulant vor stationär« scheint damit auch in der gelebten Jugendhilfepraxis seine Verwendung zu finden und wirft Fragen über die tatsächliche Gleichrangigkeit von Hilfen zur Erziehung auf. In Bereichen der Gesundheitsversorgung mag es durchaus Sinn machen, zunächst ambulante Behandlungsmöglichkeiten auszuschöpfen, bevor es um Überlegungen tiefgreifender stationärer Eingriffe geht, aber auf die Lebenswirklichkeit von Kindern, Jugendlichen und deren Familien lässt sich der Leitgedanke nicht ohne Weiteres übertragen.

Ambulante Hilfen als Allzweckwaffe

Für die Zunahme von ambulanten Hilfen zur Erziehung spielen verschiedene Faktoren eine Rolle. Zum einen hat die öffentliche Wahrnehmung in Bezug auf den Kinderschutz zugenommen (vgl. Macsenaere/Esser 2015). Die Veröffentlichung von tragischen Fällen missglückter Kinderschicksale über die Medien hat die Wachsamkeit der Bevölkerung geschärft und die Bereitschaft erhöht, Auffälligkeiten gegenüber den zuständigen Behörden zu melden. Der Absicherungsdruck im Kinderschutz erfordert von Mitarbeitenden der Jugendämter schnelle Reaktionen. Gerade dann, wenn der Unterstützungsbedarf der betreffenden Familie noch nicht einschätzbar ist, die daraus folgenden Aufträge unklar und die formulierten Ziele unspezifisch sind, liegt die Überlegung nahe, ambulante Hilfen schnell als universelle Einstiegshilfe einsetzen zu können. In ihrer Eigenschaft als zeitlich und inhaltlich flexibler Maßnahme wird diesen Formen der Erziehungshilfe eine hohe Bedeutung beigemessen: Der Leistungs- und Handlungsdruck auf Mitarbeitende familiennaher Hilfen steigt merklich. Auch sind ambulante Hilfen im Vergleich zu stationären Settings eher positiv besetzt (vgl. Knoth et al. 2009), denn sie gelten als präventiv, niedrigschwellig, familiennah und praktisch. In der Praxis kann beobachtet werden, dass sich die Dauer von Hilfen stetig verlängert, zudem müssen sich Mitarbeitende immer weiter thematisch spezialisieren, um der Fülle an Bedarfen adäquat gerecht zu werden. Teilweise werden Anbindungen zu Beratungsstellen oder therapeutischen Praxen aufgrund fehlender Kapazitäten überbrückt oder ersetzt, die ursprünglich beabsichtigte pädagogische Erziehungshilfe weicht dann nicht selten einer praktischen Überlebenshilfe. Manche Erziehungsschwierigkeiten bilden fast chronische Verläufe, die kaum mehr durch Methoden der ambulanten Beratung aufzubrechen sind.

Ohne Frage – ambulante pädagogische Hilfen sind gut und hilfreich, wenn die begleiteten Familien offen, mitwirkungsbereit und vor allen Dingen veränderungsfähig sind, denn dann kann Erziehungshilfe im häuslichen Setting erfolgreich und zielführend umgesetzt werden. Jedoch sollten Fachkräfte erkennen, wann die Grenzen dieser Hilfeformen erreicht sind und alternative, wirkungsvollere Maßnahmen mit Erziehungsberechtigten besprochen werden sollten. Auch Professionelle möchten einen Nachweis über die Wirksamkeit ihrer Arbeit erzielen und messen diese am Erfolg und Misserfolg ihrer fachlichen Interventionen (vgl. Macsenaere/Esser 2015). Häufig herrscht auch unter den leistungserbringenden Fachkräften die Auffassung, dass ambulante Maßnahmen vor allem dann erfolgreich sind, wenn die Kinder im elterlichen Haushalt verbleiben können. Dies ist in manchen Fällen möglicherweise ein Trugschluss, denn er verändert die Maßstäbe, an denen das Wohl von Kindern gemessen wird. Womöglich irritieren auch die sozialpädagogische Ressourcenorientierung und der Leitgedanke des Empowerments den neutralen Blick auf die Grenzen familiärer Erziehung (vgl. Knoth et al. 2009)

Zwischen Kindeswohl und Kostenreduzierung

Zum anderen wirkt sich der Kostensenkungsdruck von öffentlichen Trägern auf die Gewährung von geeigneten Hilfen zur Erziehung aus. Während ein einziger Tag in manchen hochspezialisierten Kinderwohngruppen mehrere hundert Euro pro Tag kostet, können ambulant arbeitende Fachkräfte eine Familie mit dem gleichen Kostensatz mehrere Wochen lang betreuen. Aus ökonomischer Sicht und unter dem Aspekt der Kostenreduzierung scheint diese Überlegung für öffentliche Träger attraktiv, denn selbst langfristig angelegte ambulante Hilfeformen wirken zunächst unter finanziellen Gesichtspunkten lukrativer als die Erwägung einer Fremdunterbringung. Die Administration – allen voran die wirtschaftliche Jugendhilfe – misst den Erfolg von Hilfemaßnahmen in erster Linie an quantitativen Aussagen, wie beispielsweise der Anzahl junger Menschen in Wohngruppen, der Dauer von Unterbringungen und den damit verbundenen Kosten (vgl. Macsenaere/Esser 2015). Wenn es Erfolg bedeutet, diese Faktoren zu minimieren und möglichst gering zu halten – inwiefern kommt die Kinder- und Jugendhilfe dann ihrem eigentlichen Aufgabengebiet noch nach? Soll und darf Heimerziehung nur das letztmögliche Mittel sein, wenn vorher alle anderen vermeintlich günstigeren Angebote ausgeschöpft wurden?

Jugendhilfekarrieren stoppen

Das zentrale Steuerungsziel, das nachhaltig die Wirkung von Hilfen zur Erziehung beeinflusst, ist die Auswahl der geeigneten Hilfeform. Nach Macsenaere und Esser, die über 100 Wirkungsstudien über Erziehungshilfen ausgewertet und zusammengefasst haben, wird in rund 30 Prozent der Fälle nicht die geeignete Hilfeform gewählt (vgl. Macsenaere/Esser 2015). Dies beeinflusst später einsetzende Hilfen erheblich, wenn Familien aufgrund lang anhaltender und nicht mehr verantwortbarer Problemlagen stationäre Angebote benötigen. Zu den Risikofaktoren, die die Wirksamkeit von Erziehungshilfen negativ bedingen, zählt die häufig so betitelte »Jugendhilfekarriere«: Kinder, Jugendliche und Familien, die sich schon lange in Hilfesystemen befinden, entwickeln mit der Zeit eine Verdrossenheit gegenüber Unterstützungsleistungen. Man kann also sagen, je mehr Hilfen bereits in der Vergangenheit in Anspruch genommen wurden, desto höher ist die Änderungsresistenz der Betroffenen.

»In diesem Zusammenhang führt die des Öfteren praktizierte Vorgehensweise, prinzipiell zunächst ambulante oder teilstationäre Hilfen den stationären Hilfen vorzuschalten, zu einer verspäteten Inanspruchnahme der möglicherweise am besten geeigneten Hilfe. Durch dieses Verhalten wird die Erfolgswahrscheinlichkeit der verspätet eingeleiteten Hilfe merklich reduziert.« (Macsenaere/ Esser 2015, S. 53)

Zudem deckt sich die Tatsache, dass ein fortgeschrittenes Alter von Kindern und Jugendlichen bei Hilfebeginn einen Einfluss auf die Effektivität der Maßnahme hat, mit dem, was aus vielen Bereichen der Interventionsforschung bereitsbekannt ist: Mit zunehmendem Alter von jungen Menschen steigt die Wahrscheinlichkeit für Misserfolge und Abbrüche in Erziehungshilfen (vgl. Macsenaere/Esser 2015). Der Aspekt, dass sich Problematiken im und mit dem Elternhaus mit fortschreitender Dauer manifestieren oder sogar weiter ausprägen können und somit zu einer Verschlechterung der Gesamtsituation beitragen, ist auch in der Praxis zu beobachten.

Von der Notwendigkeit eines Perspektivwechsels

Angesichts der beschriebenen Einflussgrößen auf die Perspektiven von Hilfemaßnahmen wird die Forderung nach einer echten Gleichrangigkeit unter den Erziehungshilfen notwendiger denn je. Ein Umdenken ist erforderlich, wenn Kinder, Jugendliche und ihre Familien tatsächlich geeignete Hilfeformen erhalten sollen. Die Vermeidung von Fremdunterbringung sollte nicht länger das (in)offizielle Ziel der Kostenträger sein, sondern benötigt einen Perspektivwechsel hin zu den Chancen und der Wirksamkeit stationärer Erziehungshilfe.

Wirksamkeit von Heimerziehung

Die Effekte von Heimerziehung werden von vielen Forschenden und Instituten durchgängig und unter Bezugnahme auf verschiedene Evaluationsmethoden eruiert. Der Landeswohlfahrtsverband Baden hat im Jahr 2000 eine Studie veröffentlicht, die zeigt, dass längere stationäre Aufenthalte nachhaltigere und deutlichere Effekte in Bezug auf die Legalbewährung von entlassenen Kindern und Jugendlichen sowie deren Teilnahme am gesellschaftlichen Leben bewirken (vgl. Landeswohlfahrtsverband Baden 2000). Auch die von Macsenaere ausgewerteten Studien bilden diese Ergebnisse ab. Durch Heimerziehung erreichte Effekte können demzufolge im Durchschnitt auch nach Beendigung der Hilfe länger gehalten werden, vor allem junge Menschen profitieren längerfristig von den Erfolgen (vgl. Macsenaere 2014). Zudem erzielt die stationäre Form der Jugendhilfe erhebliche Nebeneffekte in den Bereichen Bildung, Erwerbstätigkeit, Gesundheit und Delinquenz (ebenda). Bedenkt man zukünftige Entwicklungen und setzt die Ergebnisse in einen längerfristigen Zusammenhang, können Hilfeverläufe damit sogar begünstigt werden – auch im ökonomischen Sinn, da die Folgekosten für das Sozialsystem sinken. Lässt man die Überlegung zu, den oft einseitig auf Kostenreduzierung fixierten Blick stärker an den ergebnisrelevanten Qualitätsaspekten zu orientieren, wird man die Möglichkeiten von Heimerziehung wieder neu in den Blick nehmen müssen.

Frühe Unterbringung als Chance einer Rückführung

Nach § 34 SGB VIII zielt Heimerziehung darauf, ab »Kinder und Jugendliche durch eine Verbindung von Alltagserleben mit pädagogischen und therapeutischen Angeboten in ihrer Entwicklung [zu] fördern.« Entsprechend dem Alter und Entwicklungsstand der jungen Menschen sowie den Möglichkeiten der Verbesserung der Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie beabsichtigt sie drei anschließende Maßnahmen: eine Rückkehr in die Familie, die Erziehung in einer anderen Familie oder die Vorbereitung auf ein selbstständiges Leben. Aus den aktuellen Zahlen des Statistischen Bundesamtes aus dem Jahr 2016 wird deutlich, dass stationäre Hilfeformen mit fortschreitendem Alter der Kinder zunehmen: Von insgesamt 61.764 neu begonnenen Hilfen erfolgten 33.686 erst bei Jugendlichen im Alter zwischen 15 bis 18 Jahren. Die Werte unterhalb dieser Altersgrenze liegen signifikant niedriger und machen deutlich, dass Kinder eher seltener aus Familien genommen werden, je jünger sie sind. Die ursprünglich per Gesetz beabsichtigte Rückführung ins Elternhaus gestaltet sich umso schwieriger, je später Jugendliche stationäre Hilfeformen beginnen – nicht nur deshalb, weil die Beziehung zwischen den Eltern und ihren Kindern bis dato erheblich geprägt wurde, sich Missstände manifestiert haben und sich eine Veränderung des familiären Rahmens gerade in der Entwicklungsphase der Pubertät als sehr schwierig gestaltet, sondern auch, weil  häufig mit Entlassung der Jugendlichen oder jungen Erwachsenen aus der Wohngruppe eine Verselbstständigung stattfindet, die nach der Rückführung ins Elternhaus nur noch bedingt gewünscht oder beabsichtigt ist.

Was Familien brauchen: differenzierte Hilfeplanung

Um schädigende Entwicklungen bei der Erziehung zu unterbrechen, Kinder und deren Familien vor langwierigen Jugendhilfekarrieren zu bewahren und die Möglichkeiten einer Rückführung in die Herkunftsfamilie zu fördern, ist es notwendig, Heimerziehung als ganzheitliche und wirksame Hilfeform anzuerkennen und sie betroffenen Familien schon frühzeitig bei der Hilfeplanung anzubieten. Um dies erfolgreich umsetzen zu können, braucht es neben der notwendigen Zeit einen differenzierten Blick auf die Ressourcen, aber auch die Grenzen familiärer Erziehung und eine gute Vorbereitung, die Kind und Eltern am Prozess beteiligt. Der Suche nach einer passenden Wohngruppe müssen zum einen systematische Überlegungen zugrunde liegen, damit die Gefahr eines Abbruchs gering bleibt (vgl. Macsenaere/Esser 2015), zum anderen müssen Familien während und auch im Anschluss an stationäre Maßnahmen intensive Unterstützung erhalten, um die Rückführung von jungen Menschen ins familiäre Netz gelingend zu gestalten. Auch dazu bedarf es gemeinsamer Zielsetzungen mit den Eltern und individueller Vorgehensweisen. In der Praxis hat sich der damit beschriebene systemische Blick auf Familien bewährt.

Sozialpädagogisches Clearing der Geschwister- Gummi-Stiftung

Uns als Fachkräfte der Geschwister-Gummi-Stiftung, einem großen Jugendhilfeträger in Kulmbach (Oberfranken, Bayern) mit verschiedenen ambulanten, teilstationären sowie stationären Angeboten, liegen Kinder und ihre Zukunftsperspektiven besonders am Herzen. Da häufig nicht auf den ersten Blick erkennbar ist, welchen konkreten Bedarf Familien erheben, ist es uns ein Anliegen, Jugendämter im Rahmen von Sozialpädagogischen Clearings im Hinblick auf die Auswahl von geeigneten Unterstützungsleistungen zu beraten. In der Clearingphase werden Familiensysteme von zwei Fachkräften des ambulanten Dienstes der Geschwister-Gummi-Stiftung über einen Zeitraum von mehreren Wochen intensiv begleitet und Problemlagen, Ressourcen, Strukturen und Beziehungen der Betroffenen genau beobachtet und formuliert. Die Fachkräfte unternehmen nicht nur Hausbesuche in der Wohnung der Familie, sondern vereinbaren auch Treffen im öffentlichen Sozialraum und sprechen nach Vereinbarung mit wichtigen Bezugspersonen. Unter Zuhilfenahme von vielfältigen Methoden aus der Arbeit mit Familien, Diagnoseverfahren sowie gesprächsund erlebnisorientierten Arbeitsweisen soll ein ganzheitliches Verständnis des familiären Kontextes entstehen. Durch die gründliche Abklärung der psychosozialen Situation von Kindern, Jugendlichen und deren Familien kann unter Einbezug aller Beteiligten das weitere Vorgehen festgelegt und die Installation geeigneter Maßnahmen besprochen werden.

Fazit

Eine echte Gleichrangigkeit – und damit auch Entscheidungsmöglichkeit – ist bei der Auswahl von Hilfen zur Erziehung in der Praxis noch nicht ausreichend erkennbar. Bei Kostenträgern, Hilfeerbringenden und Familien scheint häufig die Auffassung zu herrschen, Heimerziehung in jedem Fall vermeiden zu müssen. Ohne Frage stellen ambulante Dienste gute und hilfreiche Angebote dar, wenn Familien offen, mitwirkungsbereit und veränderungsfähig sind, jedoch sollten die Grenzen dieser Hilfeformen in der Praxis erkannt, angesprochen und ernst genommen werden, wenn sie nicht dazu dienen, die Entwicklungsmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen merklich zu verbessern. Fachkräfte sollten ihre eigenen Erwartungshaltungen hinterfragen und erkennen, dass ambulante Hilfen nicht nur dann erfolgreich sind, wenn die Kinder zu Hause bleiben können. Andere Hilfeformen, darunter vor allem auch die stationäre Jugendhilfe, sollten dann in Betracht gezogen werden, um schädliche Entwicklungen von jungen Menschen unterbrechen und langfristig bearbeiten zu können. Gute Entscheidungen brauchen Zeit

– das sagt uns der Kinderschutz. Diese Zeit sollte aufgewendet werden und, wenn nötig, braucht es auch entsprechende Vorarbeit, um gelingende Hilfekonzepte zu erarbeiten. Auf jeden Fall ist handlungsrelevante und wirksame Jugendhilfe nicht ohne Kostenaufwand machbar und im Zentrum von tragenden Entscheidungsprozessen sollte nicht ausschließlich ein ökonomischer Grundgedanke stehen. Als Verantwortliche im Leistungsfeld der Kinderund Jugendhilfe müssen wir den Blick auf das richten, was unseren Auftrag bildet – das Wohl von Kindern und Jugendlichen. Nur so können wir verhindern, dass bald ein neues Paradigma unseren Berufsalltag prägt: »ambulant statt stationär«.

Literatur

  • Knoth, E. J. / Knoth-Dickscheit, J. / Tausendfreund, T. / Schulze, G. C. / Strijker, J. (2009): Jugendhilfe: ambulant und stationär. Plädoyer für ein Kontinuum. In: Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, Jg. 58, Heft 5, S. 330-350
  • Landeswohlfahrtsverband Baden (Hrsg.) (2000): Praxisforschungsprojekt Erfolg und Misserfolg in der Heimerziehung. Eine katamnestische Befragung ehemaliger Heimbewohner. Karlsruhe: Eigenverlag
  • Macsenaere, M. (2014): Wirkungsforschung und ihre Ergebnisse. In: Macsenaere, M. / Esser, K. / Knab, E. / Hiller,
  • S. (Hrsg.): Handbuch der Hilfen zur Erziehung. Freiburg im Breisgau: Lambertus. S. 592-598
  • Macsenaere, M. / Esser, K. (2015): Was wirkt in der Erziehungshilfe? Wirkfaktoren in der Heimerziehung und anderen Hilfearten. München: Ernst Reinhardt
  • Statistisches Bundesamt (Destatis) (2019): Pressemitteilung Nr. 424 vom 31. Oktober 2019